Den Nullpunkt durchschreiten

Der dritte Bestandteil des Werkes aus dem Gleichgewicht: die »Teppich-Dialoge« sind von der Idee der »Sozialen Plastik«, wie Joseph Beuys sie vorschlug, inspiriert. Die Soziale Plastik beinhaltet ein erweitertes Verständnis von Kunst, wonach jeder Mensch sich potenziell als Künstler verstehen darf – als fähig und berufen, kreativ mitzuwirken am Umgestalten der zahllosen Deformationen, mit denen wir es heute in allen Lebens- und Arbeitsbereichen zu tun haben. Der Erweiterte Kunstbegriff kann als groß angelegter Versuch angesehen werden, jenen formalästhetischen Nullpunkt, den, siehe Malewitschs Schwarzes Quadrat, die historische Avantgarde mit ihrem Gang in die Abstraktion anstrebte, zu durchschreiten.

Jenseits des Nullpunkts beginnt, so die Idee der Sozialen Plastik, ein Feld, das Beuys mit dem Ausspruch »das Atelier ist zwischen den Menschen« umschrieb. Dorthin laden die Teppich-Dialoge ein. Sie laden dazu ein, gemeinsam einen verlebendigenden, schöpferischen Austausch zu erkunden oder, mit anderen Worten, eine künstlerische Qualität von Kommunikation.

Gehalten und impulsiert vom sinnlichen Wahrnehmen hier in diesem Erfahrungsraum handeln die Teppich-Dialoge nicht etwa davon, über die aus dem Gleichgewicht geratene Welt zu diskutieren, wie es in den Medien, Talkrunden und Debattierclubs geschieht. Stattdessen schaffen die Dialoge mit kreativen Strategien wie dem »aktiven Zuhören«, der »aktiven Stille« oder einem »betrachtenden Sprechen« einen neuartigen Wir-Raum jenseits von Individualismus auf der einen und Kollektivismus auf der anderen Seite: Dort erwächst aus gemeinsamem Reflektieren und Imaginieren Ko-Kreativität.

Als Portal in dieses »Atelier zwischen den Menschen« werden Fragen dienen, zum Beispiel die Frage: Wie kann das Neue in die Welt? Neues meint hier nicht marktgängige Innovationen, nicht neue Spielarten des Kapitalismus oder neue technische Vereinnahmungen, sondern Formen eines menschenwürdigeren Miteinanders.

Kategorien wie »Begleitprogramm« und »Publikum« greifen bei den Teppich-Dialogen zu kurz. Denn hier sind alle Gestaltende. Alle wirken mit an einem fortwährend entstehenden, sich entfaltenden Werk, das letztendlich, weit über den Kunstraum Engländerbau hinaus, nach zukunftsfähigen Formen des Lebens und Wirtschaftens auf diesem Planeten sucht.

Wir dürfen, wenn wir ab dem Wochenende hier zu Teppich-Dialogen zusammenkommen, gewiss sein, dass es derzeit überall auf der Welt zunehmend Akteure des Wandels gibt, die auf ähnliche Weisen aus einem achtsamen, kreativen Austausch heraus wünschenswerte Zukünfte erschließen. Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an das tunesische »Dialog-Quartett« im letzten Jahr ist dies erstmals in die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit gerückt.

Teppich-Dialoge 1-12

Quelle: Dr. Hildegard Kurt, Partizipative Bewusstheitskunst. Zu Martin R. Wohlwends Werk »aus dem Gleichgewicht«