Teppich-Dialoge. Oder: Wie Teppiche das Empfinden und das Nachdenken zum Wandern und sogar zum Streunen brachten

von Peter Stobbe

Dr. Peter Stobbe ist Künstler, Schriftsteller und Kunsttheoretiker

EINFÜHRUNG

Das etwas andere Kunstprojekt „aus dem Gleichgewicht“ des Liechtensteiner Künstlers Martin R. Wohlwend hat die Ausstellungsbesucher des Kunstraums Engländerbau auf eine besondere Weise miteinander in Verbindung gebracht – das deklarierte Kunstobjekt war ja eigentlich „nur“ ein Gegenstand, ein Utensil des Wohnens: ein Teppich, und davon gab es eine beträchtliche Anzahl.

Dennoch wurde der besagte Teppich zum Gegenstand von etwas ganz Besonderem, zur Reflexions-und Projektionsfläche der Betrachtenden und schliesslich zum Auslöser individueller Aussagen, zu etwas in der Regel ganz Persönlichem.

Machen wir uns die Ausgangslage noch einmal klar: Wohlwend hat die Liechtensteiner Bevölkerung zur aktiven Teilnahme an seiner Ausstellung eingeladen, indem er sie nicht nur um die Bereitstellung persönlichen Hab und Guts gebeten hat, nämlich um die Leihgabe eines Teppichs für die Dauer seiner Ausstellung, sondern auch und vor allem um die Bereitschaft, aktiv am Geschehen teilzunehmen.

Kunstausstellungen haben meistens eine ziemlich klar definierte Sender-Empfänger-Konstellation: Das Kunstwerk „sendet“, der Betrachter „empfängt“, um es einfach zu sagen. Menschen besuchen Ausstellungen, weil sie dort Kunst betrachten wollen, was meistens monologisch im Sinne des womöglich sogar erkennenden Betrachtens von statten geht.

Wohlwend drehte den Spiess um –

  1. Zeigte er keine „eigenen“ Arbeiten, worunter wir meistens im Atelier entstandene Kunstwerke verstehen, schöpferische Dinge also, welche in der Regel Ausdruck eines auktorialen ästhetischen Verständnisses und einer Weltsicht sind, die sich dem Betrachter in den unterschiedlichsten künstlerischen Erscheinungsformen darbieten.
  2. Arbeitete er mit fremdem Material, das im Sinne des klassischen Kunstwerks nicht wirklich eines ist, und bespielte dennoch damit einen Ort, dessen originäre Bestimmung diesen als Raum der Kunst ausweist.
  3. Griff er in das herkömmliche Geflecht der Rezeption im Kunstkontext ein, indem er kein stilles Betrachten forderte, sondern partizipative Teilnahme seines Publikums, womit er den Kreislauf des inneren Monologs zwischen Subjekt und Objekt unterbrach, wenn nicht gar grundsätzlich hinterfragte, indem er definitiv auf die öffentlich werdende Versprachlichung des Gedachten abzielte und somit eindeutig auf das Dialogische an sich setzte, auf das Gespräch der Menschen miteinander.
  4. Dadurch wurde der „Kunst“-Raum, in dem die Dialoge stattfanden, zu einem energetischen Feld, das von Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Empathie getragen war und seine Atmosphäre als Ort der Präzisierung des Wesentlichen entfaltete und schliesslich zum Auslöser für sehr persönliche Aussagen zur individuellen Befindlichkeit, ja sogar zu Lebensziel und Lebensinhalt.

TEXT-ERWEITERUNGEN

Im Folgenden möchte ich versuchen, mich in die Teppich-Dialoge hineinzuversetzen, indem ich einzelne von Martin R. Wohlwend verschriftlichte Aussagen anonym bleibender GespächsteilnehmerInnen (im Folgenden kursiv als Kapitelüberschrift) durch eigene Reflexionen fortführe.

„Als hätte ich die Welt gesehen“

Wo ist die Welt? Sie ist da draussen. Aber das stimmt nicht, denn sie ist ja in mir drin, und ich bin gleichzeitig ein rück- und vorderseitiger Spiegel, eine Art Membran, durch die fliessen die Dinge, und ich sehe sie vor mir als Teil meiner selbst und manchmal als etwas Fremdes.

Ich stelle mir vor: Ich bin wieder in der Ausstellung im Engländerbau. Ich erinnere mich, wie ich durch den engen Gang gelaufen bin und wie sich dann auf einmal ein grosser Raum öffnete, der mit Teppichen ausgelegt war. Es war, als käme ich in ein Haus, von dem ich einmal träumte, es sei ein Körper auf Wanderschaft, und die einzelnen Teppiche waren die Orte, die Länder, waren die Wanderungen durch fremde Territorien voller fremder Sprachen und Lieder, die ich nicht verstanden habe. Und ich hatte den Eindruck, als sei allein die schiefe Ebene, die den Raum seiner einstigen Haftung enthoben hatte, Schuld an dieser eigenartigen Verschiebung von Traum und Wirklichkeit, von Gesprochenem und Gedachtem.

Ich habe gesehen: einen Raum, der in eine milchig anmutende Beleuchtung getaucht war, welche aus den Teppichen animalische Gebilde machte, je länger ich sie betrachtete. Gleichwohl verharrten sie in einer gleichsam ausatmenden Haltung, so, als wollten sie sich gleich in eine Bewegung versetzen, als wollten sie ihren tierischen Schleichgang in meine Vorstellungen aufnehmen, noch bevor ich selber auszuatmen in der Lage gewesen wäre. Der Raum, das Licht, die Teppich-Tiere hatten mich vollends überrumpelt. Es war dies die Welt der Tiere, die ich gesehen hatte, wenn auch nur für einen kurzen, verwirrenden Moment.

„Auf der Sonne gestanden“

Dies ist ein Vorstellungs-Bild, das mich sehr beschäftigt. Wer kann schon auf der Sonne, der wirklichen Sonne stehen? Das schafft wahrscheinlich nicht mal Super-Man. Trotzdem – wer den Eindruck hatte, auf der Sonne gestanden zu haben, muss ein besonderes Gefühl im Kopf, im Bauch, in den Füssen gehabt haben: ein Gefühl der Erhabenheit, vielleicht, oder den Eindruck ausserordentlicher Wärme – wohltuend und nährend, über alle Massen besonders und gekennzeichnet von einem über die bisherige Erfahrung hinausgehenden Moment der Verbindung mit dem uns umgebenden Universum: ein Ausschalten der Ratio und ein sich hingebendes Driften im Kraftfeld der Emotion.

Ich stelle mir vor: Wenn es sich um märchenhaft fliegende Teppiche gehandelt haben sollte, die Wohlwend im Engländerbau ausgelegt hatte, wäre ein solcher Sonnen-„Stand“ in der Vorstellung durchaus möglich – als Ausflug in Sphären jenseits unserer Vorstellung, als poetische Metapher für das Unvorstellbare: als Sinnbild für die Kraft der Imagination, die hinter den Demarkationslinien des Sichtbaren ihre wundersamen Geschichten und Lieder erzählt.

Ich habe gesehen: Der Raum im Engländerbau glich einer Halle in Buchara, in der ich einmal gewesen bin. Dort lagen aufgerollte und ausgelegte Teppiche in grosser Zahl, eine labyrinthische Verwebung von Mustern und Farben, es roch nach Minze und Kardamom, es lief sich mit den nackten Füssen über die Teppiche wie auf einer sattgrünen Wiese. Ich meine sogar mich an das Gefühl erinnern zu können, dass mir die strengen wie die verspielten Linien auf den Teppichen wie Wege vorkamen, wie die Verschriftung einer geheimnisvollen Botschaft, und wie die Füsse deren Sinn zu entziffern suchten. Ob die Sonne allerdings dabei eine Rolle spielte, weiss ich nicht mehr, obwohl es trotz der Kühle in der Halle, durch deren grosse Fenster gleissende Sonnenstrahlen fielen, bald zu einer wundersamen Vermischung von Schatten und Schemen gekommen war und schliesslich, am Ende des Tages, zu einer erstaunlichen Erwärmung des Raumes, zu einer Wärme-Aufladung, die nicht nur der Sonne allein geschuldet war.

„Mehr Menschen als nur wir im Raum“

Der White Cube des Engländerbaus ist gross. Einzelne Besucher einer Ausstellung können sich darin verloren vorkommen. Die Abgeschlossenheit des Raumes trägt dazu bei, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Mich fasziniert immer wieder, wie sich Menschen in Räumen gehend oder stehend verhalten, wie sie aneinander vorbeilaufen, wie sie einander ausweichen, wie sie mit Blickkontakten ihre jeweilige Raumposition ausloten. Es kommt selten vor, dass in Gedanken oder in die Betrachtung der Dinge versunkene Menschen aneinander anrempeln, dass sie sich in einer Weise körperlich nahe kommen, die nicht beabsichtigt ist.

Wohlwend hat diese „Zusammenstösse“ in seiner Ausstellung beabsichtigt, wenn auch eher gesprächsweise auf einer geistigen und emotionalen Ebene. Position beziehen im Raum (und da ging es nicht um die Austarierung des körperlichen Standpunktes vor Ort) bedeutete mit einem Mal die Inkraft-Setzung der berühmt-berüchtigten Spiegel-Metapher: sich den Spiegel vorhalten, sich anschauen und in eine Erzählung gleiten – von sich selber zu sprechen weitete sich aus zum Sprechen mit anderen Menschen. Im Raum entstand so ein vielgesichtiger Gesprächs-Raum, ein immaterieller in einem realen Raum, eine eloquente „Babuschka“, die immer wieder neue „Körper“ und damit immer wieder neue Geschichtenaus ihrem Inneren hervorbrachte.

Ich stelle mir vor: Andrej Tarkovskij, der russische Regisseur, hat 1978/79 mit seinem Film „Stalker“ ein visionäres, wenn auch beklemmendes Meisterwerk geschaffen. Darin geht es um eine geheimnisvolle „Zone“. Dort soll es ein Zimmer geben, in dem alle Wünsche erfüllt werden. Stalker, der kundige Pfadfinder, soll einen Schriftsteller und einen Wissenschaftler dorthin führen. Im übertragenen Sinn wird der Engländerbau in Wohlwends Ausstellung zu einer ebensolchen „Zone“, zu einem Raum jenseits der Setzungen: unbekanntes Gebiet. Die „Zone“ im Sinne Tarkovskijs ist ein exterritoriales Gelände, ein von der Zivilisation massgeblich kontaminiertes Gebiet, und für den Wissenschaftler ist das geheimnisvolle Zimmer sogar der Ort einer drohenden Menschheitskatastrophe.

Ich habe gesehen: Als ich die Ausstellung besuchte, war niemand da. Ein wohltuender Moment. Ich war allein und konnte den Raum und seine Dinge auf mich wirken lassen. Ich merkte, wie der Raum und seine Dinge mich allmählich berührten – ich war berührt und, ehrlich gesagt, fast den Tränen nah. Es ging mir wahrscheinlich wie der mir unbekannten Person, die gesagt hat: „Mehr Menschen als nur wir im Raum“ – ein Gefühl aufgehoben zu sein, trotz allem aufgehoben und nicht allein zu sein.

„Vorstellung von Wohnungen und Menschen“

Teppiche sind kulturell geprägte Gegenstände. Als Bodenbelag stellen sie eine Auflage dar: Sie liegen auf dem Boden, der kann aus Holz sein, aus Stein, oder es handelt sich um die nackte Erde. Ein Teppich als solcher stellt einen nicht vollständigen Raum dar – ihm fehlen die Wände, die Decke. Dennoch sitzt es sich auf ihm, als befände man sich in einem Gebäude. Das Gebaute ist hier die Verwebung von Kette und Schuss zu einem an sich zweidimensionalen Gebilde, die Farbmuster und gestalteten Strukturen lassen Rückschlüsse zu auf einen ursprünglich paradiesischen Garten. Hier lässt sich ruhen und träumen, sprechen und zuhören. Solche „Gärten“ lassen Hektik, Geschwindigkeit und Trubel vor den imaginären Türen – aber das Teppich-Haus ist offen, man darf eintreten und verweilen.

Ich stelle mir vor: Wahrscheinlich ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, reale Rückschlüsse auf Wohnungen und Menschen zu ziehen, auch wenn man sich das als naheliegend vorstellt beim Betrachten der Teppiche im Engländerbau. Es sind Gedanken-Spiele – der wertvolle Perser einerseits und der einfache Bettvorleger andererseits, was will uns das schon sagen? Interessanter, so kommt es mir vor, sind vielleicht Vorstellungen, die den jeweiligen Teppich als stummen Zeugen und Gedächtnis-Träger wechselnder Umgebungen imaginieren: als Wegbegleiter der Menschen an unterschiedlichen Orten, in anderen Ländern vielleicht sogar. Und was sich dort eingelagert haben könnte zwischen den Mustern als Überbleibsel anderer Umstände und Verhältnisse: ein anderer Staub, ein anderes Licht, ein anderer Boden, auf dem der Teppich gelegen haben könnte, ein anderes Leben vielleicht.

Ich habe gesehen: Die auf dem Boden ausgelegten Teppiche sahen aus wie der Grundriss einer utopisch anmutenden Siedlung – einer wirksam gewordenen fraktalen Setzung, die mehr dem Poetischen als dem Raumordnungsprogramm der Ingenieure verpflichtet war (in memoriam Zaha Hadid). Da gab es Häufungen und Leerstellen, angedeutete Untergrabungen und geballte Verdichtungen, es waren Zwischenräume für reale Menschen, deren Abwesenheit nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass solche obskur wirkenden Siedlungsformen vielleicht doch eher dem menschlichen Bedürfnis nach Nähe und Kommunikation entsprechen als die pfeilgerade ausgerichteten Ergebnisse computergesteuerten Entwerfens.

„Zwei Beine helfen das Gleichgewicht zu halten“

Man konnte leicht aus dem Gleichgewicht geraten, entweder war man es sowieso schon, oder ein solches Gefühl stellte sich ein beim Betreten der Ausstellung. Ein leichter Schwindel, ein Gewahrwerden verschobener Koordinaten. Nicht unangenehm eigentlich, aber ungewohnt ganz sicher. Es braucht nicht allzu viel, um die eingeschliffenen körperlichen und kognitiven Abläufe zu stören. Die Relativierung der Ordnungssysteme im Raum geht aber gleichzeitig daher mit einer ebensolchen Verschiebung auf der Zeitachse. Entweder steht sie still, die Zeit, oder sie läuft weiter – schnell und schneller werdend, und wir in einem Strudel, dass es sich nur so dreht: aussen und innen und überhaupt. Es ist doch bloss eine schiefe Ebene, sagt der Künstler … .

Ich stelle mir vor: Und eigentlich liegt es auf der Hand, dass sich in solchen Räumen jenseits der uns geläufigen Ordnungen von Raum und Zeit auch die inneren Räume ändern können – vielleicht werden wir dünnhäutiger, aufmerksamer, vielleicht sogar mitteilsamer, weil sich irgend etwas in uns erinnert an das Brüchige, das Fliessende, das Unbestimmte oder sogar an das Unbestimmbare – letzteres scheint jener peripher gelegene Ort zu sein, der uns verführt zum Überschreiten von Grenzen und danach womöglich zum Innehalten und zum Beobachten: Wo bin ich? Bin ich jetzt ein Anderer? Was habe ich zu sagen?

Ich habe gesehen: Beim Laufen über die Teppiche beobachtete ich das Vorwärtsschreiten meiner Beine. Sie liessen sich treiben, und der Körper folgte ihnen, ohne auf den Weg zu achten, den es ja gar nicht gab. Die Beine hielten zwar das Gleichgewicht, sie spürten aber nicht das gleiche – das eine Bein schien das Gewicht zu spüren, mein Gewicht, vielleicht sogar das Gewicht des Raumes, was freilich das Gewicht meiner Empfindungen war, während das andere Bein vorwärts schritt, gleichsam unbeschwert und auf eine Weise heiter. Ich selber aber kam nicht hinterher, weil ich hängen geblieben war in Mustern und Farben, die nicht meine waren.

„Bin Raum selbst“

Die Erfahrung von Kunst gründet in der visuellen Annäherung an das Betrachtete. Der Augen-Blick führt mich in etwas Fremdes, das ausserhalb meines Körpers seinen Platz hat und dort seine Präsenz entfaltet. Meine Reaktion auf das Sichtbare kann in ein Gefühl münden – ich fühle mich wohl bei dieser Betrachtung oder auch nicht. Diese Empfindung hat bei mir zumindest keinen körperlichen Raum; damit will ich sagen, ich kann nicht lokalisieren, ob sich meine Füsse damit wohl fühlen, der Rücken, die Hände, oder ob allein der Gesichts-Sinn meldet: alles gut, oder alles nicht gut. Das Hirn verortet den Körper im Raum und erkennt den Raum als Hülle, die den Körper umgibt. Das Hirn wendet auch unsere Sprache an und somit die in der Sprache und in ihrer Anwendung eingeschriebenen Relationen: unser Verhältnis zu uns selber, zu den Anderen, zur Welt. Selber Raum zu sein, meine ich, ist eine höchst spannende Aussage, die in ihrer prägnanten Kürze und Eindeutigkeit „Bin Raum selbst“ auf mich poetisch wirkt, künstlerisch – nomadisch im besten Sinne.

Ich stelle mir vor: Raum und Zeit sind messbar. Zahlen sind in unserer Kultur die dafür prädestinierten Masseinheiten. 1 Minute hat 60 Sekunden, 1 Meter besteht aus 100 Zentimetern. Man könnte ja stattdessen auch sagen: 1 Minute besteht aus 5 Bäumen oder 1 Meter aus 12 Geigen. Wohlwends Raum besteht aus vielen Teppichen. Und es wäre die Frage zu stellen, was Bäume und Geigen mit Teppichen zu tun haben. So könnte Poesie entstehen … .ch habe gesehen: Der Raum war ausserordentlich still. Seine Wörter waren, wenn überhaupt, nur in Bodennähe gut zu hören. Ich war in Ausstellungen, die sehr laut gewesen sind, schreiend laut zuweilen. Solche Lautstärken sind nicht gut für meine Ohren. Die Stille des Raumes korrespondierte mit der dem Teppich als solchem wohl eigenen zurückhaltenden Art – da will sich kaum etwas aufdrängen, sie, die Teppiche, liegen da, so kam es mir vor, würdevoll, stolz, selbstbewusst – aber still. Sie waren ganz still – und wenn Wörter zu hören waren, hatte es sich um eine Art Echo gehandelt, das kam von den Gesprächen, welche die Teppiche nachts geführt hatten, nachdem die Menschen fort gegangen waren.

„Sinnliche Bildsprache kann Neues in die Welt bringen“

Das finde ich auch. Wahrscheinlich weil die Sinnlichkeit nüchterne Begriffe durch zusätzliche Bedeutungen erweitert, sodass sich immer wieder neue Aspekte ergeben, die betrachtet und erfahren werden können – ein semantischer Mehrwert sozusagen mit womöglich sogar ungeahnten Möglichkeiten, das Nachdenken, das Sprechen zu präzisieren und sich dem Wesentlichen zu nähern.

Ich stelle mir vor: Zwei Menschen gehen wandern. Der Eine sieht einen Baum und sagt „Vogel“. Der Andere sagt: „Weitschweifende Phantasie“. Er sieht einen Heuhaufen und sagt: „Heuhaufen“. „Schade“, antwortet der Eine.

Ich habe gesehen: Der Raum im Engländerbau wurde mit der Zeit immer grösser. Die Wände schienen durchlässig geworden zu sein. Es strömte aber kein Licht hinein, sondern ich hatte den Eindruck, dass sich der Raum selber – in seiner Ruhe, in seinem diffusen Licht, in seiner stillen Erzählung – in eine ganz besondere Geschwindigkeit begeben hatte, dass er also unterwegs war, dass er sich bewegte, nicht um sich selber kreisend und sich selber widerspiegelnd, sondern in einer zurückgenommenen Geschwindigkeit, dem Tempo des müssigen Fussgängers. So schien er dahin zu gleiten, vorbei an Häusern, an Wäldern, an den Bergen und über den Fluss.

„Es braucht wenig“

Wenig ist oft immer noch viel. Vor allem dann, wenn sich das vermeintliche Wenige als Vielgestaltigkeit zeigt, wenn das Wenige zum Anlass staunenden Betrachtens wird und zum Gegenstand sprachlicher Recherche. ‚Reduktion von Komplexität’, hiess es bei dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann. Damit meinte er nicht nur jenen Vorgang des Aussonderns, des Trennens, in dem das Wesentliche vom Wesentlichen geschieden werden sollte, sondern auch die Konzentration der Gedanken auf das real Vorhandene. Er bezog sich wohl auf den Philosophen Edmund Husserl, der dem Phänomen und seinem Kern selber auf die Spur kommen wollte und nicht dessen Erscheinung auf einer optischen Oberfläche.

Ich stelle mir vor: „Es braucht wenig“, um mit den Teppichen ins Träumen zu kommen. Andererseits braucht es viel, um es zuzulassen. Manchmal braucht es einen Anstoss, um sich zu trauen. Martin Wohlwend hat einen solchen Anstoss gegeben. Es gehört viel dazu, einen solchen Raum zu kreieren, der die Menschen ermuntert loszulassen.

Ich habe gesehen: Ich war einmal in der Mongolei. Da sassen die Menschen in einer Jurte am Feuer und sprachen miteinander. Ich verstand nicht, über was sie redeten, aber ich hatte den Eindruck, die guten Geister waren an ihrer Seite.

Mai 2016